Beten

Wie geht eigentlich beten, Frau Weinold?

Interview mit Irene Weinold, die in der Diözese Innsbruck für Exerzitien im Alltag zuständig ist

Wie geht eigentlich beten, Frau Weinold?
Foto: Diözese Innsbruck

Darf ich ganz direkt einsteigen: wie beten Sie, Frau Weinold?

Ich setze mich jeden Morgen für eine halbe Stunde hin. Zuerst spreche ich ein Gebet, immer dasselbe vom Heiligen Franziskus: „Höchster, glorreicher Gott, erleuchte die Finsternis meines Herzens und schenke mir einen Glauben, der mich weiterführt, eine Hoffnung, die durch alles hindurchträgt und eine Liebe, die auf jeden Menschen zugeht. Lass mich spüren, wer du bist und erkennen, wie ich deinen Auftrag erfülle.“ Danach verweile ich in Stille und versuche, die Gedanken, die kommen, wieder ziehen zu lassen, und nur da zu sein in diesem Moment vor Gott. Am Ende bete ich für die Menschen, die gerade das Gebet brauchen, dann noch ein Vaterunser, bevor ich mit einem Segen abschließe.

Jeden Tag also der gleiche Ablauf?

Im Grunde ja, aber manchmal weiche ich auch ab davon. Manchmal gelingt Stille nicht so gut, und ich brauche mehr Text. Aber einen einigermaßen festen Ablauf finde ich wichtig, damit man sich eine hilfreiche Gewohnheit schafft und sich nicht jeden Tag fragt: so, was bete ich jetzt heute?

Schließen Sie den Tag abends auch mit einem Gebet ab?

Ja, mit einem Rückblick: ich frage mich, wofür ich an diesem Tag am meisten dankbar bin. Und auch wofür am wenigsten. Was hat mich heute geweitet, was verengt? Wenn man das regelmäßig macht, kann man Linien erkennen, wohin das Leben strömen möchte.

Was ist der Unterschied zwischen beten und meditieren?

Was unterscheidet beten eigentlich von meditieren?

Man kann das nicht wirklich trennen. Meditieren bedeutet ja: loszulassen von dem, was unseren Alltag füllt, oft genug auch überfüllt. Das kann eine Methode des Betens sein, denn leere Hände und Offenheit erleichtern die Begegnung mit Gott.

Achtsamkeit, mindfulness, ist ja in Mode – meist als eine Art Persönlichkeitscoaching und ohne Gott als Gegenüber. Brauche ich da diesen Bezug zu Gott?

Ich bin dankbar dafür, dass ich diese Ansprechperson habe. Ich erinnere mich an Einkehrtage für Studenten verschiedenster oder keiner religiöser Prägung, alles war sehr offen und divers, sogar die Christus-Ikone musste raus aus dem Raum. Beim Tischgebet, das dann aber doch gesprochen wurde, fragte ich mich: wenn ich Gott nicht ansprechen darf: wem danke ich für all das, was ich im Leben nicht selbst vermocht habe, alles, was mir geschenkt wurde: Gesundheit, Liebe, meinen Mann, die ein oder andere Fügung. Kann ich meinen Dank für das Essen, das vor mir steht, meine Freude über Glück aber auch mein Leid an etwas Abstraktes wie das Universum richten?

Kann ich nicht einfach für mich allein dankbar sein? Bzw. Leid allein für mich bewältigen?

Wir leben in einer Zeit des Selbst-Optimierens, in der wir meinen, alles erreichen zu können, wenn wir uns möglichst optimal ausbilden, fortbilden, trainieren, coachen lassen usw. Gegen all das spricht überhaupt nichts. Doch wir übersehen manchmal, dass wir für das Wesentliche im Leben trotz all unserer Bemühungen oft überhaupt nichts tun können, dass es ungewollt, ungeplant und manchmal auch unverdient geschieht, dass es uns geschenkt wird. Die Kirche kennt dafür den etwas antiquierten Begriff der Gnade. Wenn ich dankbar bin für eine solche mir widerfahrene Gnade, dann kann ich diesen Dank schlecht an den statistischen Zufall richten, mit dessen Wahrscheinlichkeit sie eingetreten ist. Für mich ist Dankbarkeit deshalb eine ganz wichtige Eingangstür zur Gottesbeziehung.

Ist diese Dankbarkeit der Grund dafür, dass Menschen beten?

Warum beten Menschen eigentlich?

Das kann eine Motivation sein. Aber es gibt auch andere: manche Menschen, wenn auch immer weniger, beten, weil sie das seit ihrer Kindheit eingeübt haben. Andere bitten um etwas, das sie nicht selbst in der Hand haben. Manche beten, weil sie eine Ahnung haben, dass es da etwas Größeres gibt und sie die Sehnsucht empfinden, in eine Beziehung zu kommen. Manchmal gibt es als Motivation auch den Wellness-Gedanken: dass es mir durch Beten gut geht. Dass ich ruhiger werde, inneren Frieden und Trost empfinde, mich wieder ausrichte aufs Wesentliche. Das ist überhaupt nicht verkehrt, und oft hat Beten genau diesen Effekt. Aber Wohlgefühl ist nicht das Hauptziel von Beten. Man kann und soll auch im Leid, in der Angst, in der Unruhe beten und auch dann hinhorchen, was man in sich wahrnimmt.

Das Ziel ist also, dass ich etwas wahrnehme in mir?

Das Ziel ist, mit Gott eine Beziehung zu pflegen. Ihm zu begegnen. Methoden des Betens können dabei eine Hilfe sein, aber nie das Ziel selbst. Manchmal ist das konkrete Lieben der Menschen um mich herum das intensivste Gebet.

Inwiefern hat das mit Beten zu tun?

Wir haben nur ein Organ für die Liebe, nennen wir es Herz. Wir haben also nur ein Herz für Gott, die Menschen und uns selbst. Wenn ich Probleme mit der Liebe zu anderen Menschen oder zu mir selbst habe, habe ich auch Probleme in der Gottesbeziehung. Oder anders herum: wenn mich Beten öffnet für die Begegnung mit Gott, dann öffnet es mich auch für meine Beziehung zu anderen Menschen und zu mir selbst.

Was ist Ihre Motivation zu beten?

Ich gehöre noch zu den Menschen, die das als Kind eingeübt haben und die sich ihr Leben lang nach Beziehung sehnen zu diesem Gegenüber, diesem liebenden und unendlich leidenschaftlichen Gott, der nur darauf wartet, dass wir in Beziehung treten zu ihm.

Können Sie das beschreiben, dieses „in Beziehung treten“?

Beten heißt für mich: mich disponieren, öffnen, bereit machen. Dass ich das tue, was ich tun kann, um in Kontakt zu kommen mit Gott. Und dass ich das lasse, zumindest für eine bestimmte Zeit, was mich daran hindert, und dass ich das zulasse, was er mir schenken will.

Wie sieht dann dieser Kontakt aus? Wie ist es, wenn Gott antwortet?

Und wie antwortet Gott?

Sicher nicht so wie bei Don Camillo. Er zaubert auch nichts herbei oder weg. Manchmal antwortet er mit eindeutigen Impulsen, Gedanken oder Ideen, die mehr oder weniger klar den Weg weisen. Das sind dann geschenkte Glücksmomente, wenn man das erkennt. Manchmal geschieht seine Antwort auch außerhalb des Betens, in einer Begegnung im Alltag zum Beispiel, für die ich unerwartet offen bin. Ganz oft aber ist es nicht so klar, was Gott mir sagen möchte. Oder man nimmt gar nichts wahr. Auch die größten Beter der Geschichte wie Teresa von Avila oder Meister Eckart haben in ihrem Beten lange Zeiten der Dürre erlebt, in denen sie daran zweifelten, ob es dieses Gegenüber tatsächlich gibt.

Was macht man in solchen Situationen?

Das einzige, was man tun kann ist: sich weiter disponieren für diesen Kontakt, Offenheit herstellen, Raum bieten, Stille suchen und dann in diesen Momenten bleiben, auch wenn sie sich schwierig anfühlen, und weiter hinspüren auf die inneren Regungen. Im ignatianischen Sinn kann man sich fragen: was davon gibt mir Trost und Ruhe, was führt mich zu einem Mehr an Offenheit, Hoffnung, Liebe   oder was bewirkt das Gegenteil. Genau das ist nach meiner Erfahrung das Wesentliche am Beten: dass ich mich öffne für alles im Leben, und da bleibe, wo ich gerade bin, nicht immerzu wegstrebe.

Da sein statt wegzustreben, ist das vielleicht das Wesentliche am Beten?

Ja, denn diese Haltung öffnet mich für alles im Leben. Es klingt vielleicht etwas seltsam, aber in diesem Sinn kann auch Gartenarbeit oder putzen spirituell sein, wenn ich achtsam ein Stück nach dem anderen in die Hand nehme und nur in dem Moment bin und nicht unter Zeitdruck und gedanklich gestresst bei allem, von dem mich das Putzen vermeintlich auf- und abhält.

Also ist ora kein Gegensatz zu labora?

Das ist so auch nicht zu verstehen: das bewusste, achtsame Tätigsein der benediktinischen Mönche ist genauso eine Art des Betens wie der gregorianische Choral oder andere Gebetsformen: labora ist ora, kann es zumindest sein.

Was macht Beten mit dem Menschen, der regelmäßig betet?

Betende Menschen strahlen oft Ruhe aus, einen Frieden, den andere wahrnehmen. Aber diese Wirkung ist nicht das Ziel von Beten. Das ist wie mit der Demut: sobald ich von mir sage, dass ich demütig bin, ist es vorbei mit Demut. Aber ohne Zweifel verändert Beten etwas. Indem man sich übt, zu verweilen, lernt man, das Alltägliche anders zu tun. Man begegnet sich selbst und anderen achtsamer.

Gibt es nach Ihrer Erfahrung besser oder weniger gut geeignete Gebetsformen?

Das ist ja gerade der Schatz der Tradition, dass es so viele unterschiedliche Formen gibt, vom Rosenkranz bis zu Exerzitien. Jeder und jede ist eingeladen, sie auszuprobieren und für sich herauszufinden, was das Seine bzw. Ihre ist. Meine persönliche Erfahrung ist, dass sich die Formen auch ein wenig abwechseln bzw. einander ergänzen: es gibt Phasen des Betens, in denen man mehr vorformulierten Text braucht, weil das andere gerade nicht geht. Von Fulbert Steffensky gibt es das Bild: alte Gebete sind wie ein Mantel, in den man sich hüllen kann, wenn das Kleid des eigenen Glaubens dünn wird. Ich finde das sehr schön, weil es einem die Verbindung mit den vielen Menschen bewusst macht, die diese Gebete in den Hunderten, machmal über tausend Jahren vor uns schon gebetet haben, und die die gleichen Erfahrungen mit Gottesbegegnung machten wie wir heute.

Das heißt also, vorformulierte Texte als Gebet sind nicht nur etwas für Anfänger?

Nein, überhaupt nicht. Allerdings stelle ich bei mir selbst fest, dass ich mit der Zeit immer weniger Worte brauche, wenn ich bete.

Darf man auch um den Lottogewinn beten?

Darf ich eigentlich auch um einen Lottogewinn beten?

Ja sicher, man darf alles vor Gott bringen. Die Frage ist, ob das hilft. Wichtig beim Beten ist vor allem das Hören, und das gilt auch sich selbst gegenüber: also auch hinzuhorchen, wieso man explizit um dieses oder jenes bittet im Gebet. Wenn das gelingt, kann es sein, dass Beten die Bitte ändert, die man zunächst gebetet hat.

Haben Sie Tipps für Gebetsanfänger oder Wieder-Anfänger? Worauf sollten sie achtgeben?

Zum einen sollten sie die Formen ausprobieren: einfach machen und schauen, was passiert. Es schadet nicht, wenn man offen ist gegenüber Formen, die man sich zunächst gar nicht vorstellen kann. Der Rosenkranz ist da so ein weithin unterschätzter Kandidat.

Dann sollten sich Anfänger einen Ablauf zusammenstellen, der für sie stimmig ist, und der sie unabhängig von ihrer momentanen Tagesverfassung macht. Wenn man zu einem klaren Ablauf greifen kann, ist Beten an schlechten Tagen einfacher, als wenn jeden Morgen das Feld frei vor mir liegt: wie und was bete ich jetzt eigentlich?

Drittens sollte man nicht nur in individueller Spiritualität verharren, sondern sein Gebet bewusst auch Menschen schenken, denen man im Alltag begegnet. Machen Sie Ihr Leben selbst zum Gebet, indem Sie den Menschen um sich herum mit Liebe, Respekt und Wertschätzung begegnen.

Und viertens ist Austausch über Gebetserfahrung wichtig, denn sonst kann man Gefahr laufen, den eigenen Vogel für den Heiligen Geist zu halten.

Warum gibt es selbst in den Kirchen so selten Räume für solchen Austausch?

Es ist ein Armutszeugnis, wenn es diese Räume nicht oder nicht mehr gibt. Aber wir müssen auch sehen, dass die Gottesbeziehung in unserer Zeit ziemlich weit in die Privatsphäre abgedrängt, fast zu etwas wie einem Tabu geworden ist. Menschen, die sie pflegen, sind sich unsicher, ob sie nicht als Spinner angesehen werden, wenn sie davon berichten. Vor allem aber: Gottesbeziehung ist etwas sehr Intimes. Um davon zu sprechen, brauche ich einen vertrauten Raum und Menschen, denen ich mich mit meiner Erfahrung gut anvertrauen kann.

Interview: Gerd Henghuber

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